Richtig oder falsch?
Von Bettina Musall
Die Videos des Niederländers Aernout Mik wirken befremdlich, weil sie so echt aussehen.
Wie lässt sich etwas beschreiben, das keinen Anfang und kein Ende hat? Etwas, das von Menschen handelt, aber keine Geschichte erzählt? Das äußerst künstlich und von der Wirklichkeit trotzdem kaum zu unterscheiden ist?
Eine Videoschleife. Ohne Ton. Menschen in einem Großraumbüro. Zielstrebig, und doch ohne erkennbares Ziel, bewegen sie sich zwischen Kabelsalat und Monitoren über den azurblauen Teppichboden. Scheinen einem geheimen Plan zu folgen. Rotten sich zusammen. Plaudern, gähnen, konferieren. Rennen aus dem Raum.
Seltsam vertraut kommt einem das vor. Könnte Kollege Beliebig sein, der da hemdsärmelig mit dem im Westenanzug spricht. Typisch Assistent Möchtegern, immer zu viele Akten im Arm. Und da, der Mitläufer, bin ich das etwa selbst?
Jetzt versammeln sich plötzlich alle am Fotokopierer. Gibt es einen Aufstand, oder wird die Tantieme verteilt? Und wieso läuft dem Cheftypen plötzlich Blut aus der Nase?
"Dispersion Room" hat Aernout Mik, 42, seine neueste Arbeit genannt. Dispersion, zu Deutsch Zerstreuung. Gemeint hat der holländische Künstler wohl damit, dass sich die Büroangestellten nach einem inneren Muster verteilen. Aufgaben erledigen. Sich formieren, wieder zerstreuen. Oder will er doch etwas anderes andeuten? Miks Werke geben keine Antworten auf die Fragen, die sich bei ihrem Anblick stellen. Der Künstler sagt nur, was er auf keinen Fall will: "authentisch sein". Aber was dann?
Acht Videoinstallationen von Mik, darunter seine neueste, eigens konzipierte Arbeit "Dispersion Room", zeigt das Münchner Haus der Kunst (gleichzeitig mit dem Kölner Museum Ludwig) diesen Sommer - die erste umfangreiche monografische Ausstellung dieses Künstlers in Deutschland, der einen internationalen Steilaufstieg hinter sich hat.
Ob das Stedelijk Museum, Amsterdam, oder das Caixa Forum, Barcelona, die Biennale in Venedig, das Living Art Museum, Reykjavik, oder die großen Kunsthäuser Amerikas: Wo Zeitgenössisches auf höchstem Niveau geboten wird, ist der in Amsterdam lebende Mik vertreten.
Denn aktueller kann Kunst kaum sein, als das, was Mik mit seinen Videos vorführt: Der dokumentarische Blick der Kamera zeigt Szenen, die gleichzeitig wahr und falsch wirken, gleichzeitig authentisch und gestellt. Mik kommentiert damit eine Zeit, in der sich Laiendarsteller in TV-Nachmittagsshows nach Vorgaben eines Drehbuchs zu Ehekrisen oder sexuellen Abweichungen bekennen, in der Dokumentarfilme mit erfundenen Szenen dramatisiert werden, in der sich gestellte Skandalbilder von realen nicht mehr unterscheiden lassen, in der die Grenzlinie zwischen Wahrheit und Fälschung immer weiter in Richtung der Fälschung verschoben wird. Einer Zeit, in der es der Infotainment-Industrie egal geworden ist, was Information ist und was Desinformation, und den Zuschauern offensichtlich auch, solange nur das Tainment stimmt.
Mik lässt seine Zuschauer allerdings nicht in Fernsehsesselruhe seine Filme ansehen. Mit bis zu 70 Darstellern, überwiegend Laien - manchmal setzt er auch Tiere ein -, bevölkert der gelernte Bildhauer nach exakten Konstruktionsplänen seine lautlosen Welten, die dem Betrachter räumlich und körperlich an die Nerven gehen.
Im Münchner Haus der Kunst befinden sich die Besucher der Installation "Dispersion Room" in der gleichen uniformen Bürolandschaft aus Resopal-Inseln, Zimmerpalmen, Rollcontainern wie die Darsteller auf den Videowänden. Die Möbel in dem haushohen Museumsraum des einstigen Nazi-Kunsttempels sind jedoch abgesägt - ein unwirtliches Kinderzimmer. Die Betrachter sitzen unbequem, sinken förmlich in den Boden ein, werden für die Dauer ihrer Anwesenheit zu Kollegen, Nachbarn, Leidensgenossen derer, die sie betrachten.
Ein unbestimmtes Schwindelgefühl stellt sich ein. Hervorgerufen durch die Kameras, gewiss. Sechs Stück überwachen das an die Wand geworfene Großraumbüro, äugen unter dem Schreibtisch hervor, begeben sich auf Blickhöhe, schwenken in die Deckenperspektive. Oder schwanken sie? Schwankt der Betrachter?
"Auf keinen Fall authentisch sein." Dabei sehen Mik-Videos auf den ersten Blick wie ein Sammelsurium von Reality-TV-Szenen aus. Inszenierte bedrohliche Wirklichkeiten. Zum Verwechseln mit der Realität. Auf den ersten Blick.
Auf den zweiten Blick Erleichterung. So verhält sich kein realer Mensch. In einem Supermarkt ("Pulverous") zerfetzen Erwachsene die Waren und die Einrichtung, richten ein unbeschreibliches Chaos an. Tatort "Fluff": Zwischen Sofas in Schutzbezügen, Schränken, Holzpaletten, liegt ein körperloser Kopf auf einer Tischplatte. Männer gehen aus und ein. Einer zieht die Hose aus. Etwas fliegt ihm in den Nacken. Einfach so. In der Arbeit "Flock" kauern Menschen am Boden. Manche schlafen. Mit offenem Mund. Andere dösen. Oder warten sie? Neben sich die Habe in Plastiktaschen. Dazwischen Ziegen. Dösen auch. Koten.
Ein Kosmos der Verrückten. Lauter Fälle für die TV-Therapie am Nachmittag. Aber die Erleichterung, die Distanz schafft, löst sich wieder auf. Warum tun die Menschen, was sie tun, so teilnahmslos? Vielleicht, scheint der ruhige, dokumentarische Blick der Kamera zu suggerieren, ist das doch alles abgefilmte, absurde Realität?
Mit seinen Videoinstallationen will Mik zur Wachsamkeit verführen: "Alles dreht sich doch heute um Fiktion und Realität", sagt er. Sein Kunstgriff: das Fiktive gleichzeitig irreal und real aussehen zu lassen - so real, dass der Zuschauer nach Erklärungen sucht, um die fiktiven Szenarien zu verstehen. Zum Beispiel: "Dispersion Room". Das Endlosvideo vom Großraumbüro verbirgt zwar Anfang und Ende, aber das scheinbar sinnfreie Tun der Beteiligten strömt in seiner unterschwellig komödiantischen Rastlosigkeit eine Krimi-Spannung aus. Irgendetwas muss geschehen sein, so ergeben, wie die Menschen da am Boden knien, sitzen, liegen. Aber was? Ein Stromausfall? Eine Katastrophe? Oder ist den Leuten doch nur katastrophal langweilig?
Oder "Zone": Der Betrachter vermutet Gewalt, Zerstörung, Anarchie, wenn in einer betonbewehrten Fußgängerzone Jugendliche Pappkartons zu einem Brandherd auftürmen. Die Ruhe jedoch, mit der sie ihre Arbeit verrichten - konzentriert, ohne Wut, beinahe fröhlich, als sei das eben ihr Spiel -, lässt auf eine fein durchdachte Choreografie schließen.
"Immens politisch" nennt Chris Dercon, Direktor im Münchner Haus der Kunst, die Arbeiten Miks. Medienkritische und überhaupt kritische Botschaften können da hinein- und herausgelesen werden. Achtung: Fälschung! Oder Vorsicht: Vereinzelung! Obacht: Herdentrieb! "Ohne Ästhetisierung", erklärt Dercon das versteckte Programm, "ist ja heute keine Politik mehr möglich."
Der Künstler will sich - natürlich - nicht auf eine Botschaft festlegen lassen. Muss er auch nicht. Anthropologie und Soziologie beschäftigten ihn zurzeit am meisten, erzählt er, was auch immer er damit andeuten will. Wenn Dercon dennoch Recht hat, dann vor allem, weil Mik jede Absicht zu belehren, explizit verweigert. Seine Videos bleiben nicht an der Oberfläche zwischen lila Latzhose und Brioni-Anzug hängen, sie wirken auf die Eingeweide. Also implizit.
Quasi osmotisch stellt sich beim Anblick seiner Inszenierungen die Einsicht ein, dass es wohl grundsätzlich besser ist, sich zu vergewissern, anstatt zu vertrauen. Nichts ist mehr wahr, was der Fall ist.
Und dann findet man es plötzlich nicht mehr bedrohlich, sondern komisch, wie absurd die Mik-Menschen sich verhalten. Oder vielleicht sogar verständlich. Hätte man nicht selbst auch gern mal Cornflakes-Packungen zerrissen und den Inhalt überall verstreut, anstatt, im Gegenteil, die Krümel unterm Esstisch wegzustaubsaugen? So gesehen zeigen Miks Videos dann doch - die Wahrheit.
Ein älterer Mann gibt in "Dispersion Room" den Leithammel, den Boss. Eine Aura umgibt ihn, irgendwie chefig. Er trägt den feinsten Anzug. Hält die Fäden in der Hand. In der Hand? Da umklammert er eine Puppe. Aus Stoff. Umklammert sie so fest, dass sie den Kopf verliert.
Über ihm quillt die Technik aus der Decke. Am Verhandlungstisch scheinen die Asiaten vor dem Vertragsabschluss zu stehen. Das Blut an seiner Nase ist getrocknet. Er lehnt an einem Schreibtisch. Allein. Die anderen ziehen weiter ihre Bahnen. So ist das im Büro.
KulturSPIEGEL 7/2004 - 28. Juni 2004