"Hollywood verrät seine Charaktere"
Mit der beklemmenden Psychostudie "Spider" meldet sich DavidCronenberg, 61, nach längerer Pause im Kino zurück. SPIEGEL ONLINE sprach mit dem Kultregisseur ("Die Fliege", "Naked Lunch") über seinen Flirt mit Hollywood, den Reiz des Extremen und den Genre-Film als Deckmantel.
SPIEGEL ONLINE: Mr. Cronenberg, in Ihren Filmen wimmelt es von gestörten Existenzen: Mutanten, Fetischisten, übersinnlich begabte Killer und jetzt - in "Spider" - ein Mann mit Persönlichkeitsspaltung. Interessiert Sie die Normalität nicht?
David Cronenberg: Eine Normalität, in der es keine Entfremdung gibt und alles funktioniert, taugt nicht für einen interessanten Film. Vielleicht bietet sie ein Leben, das wir gerne führen möchten, obwohl ich selbst das bezweifeln würde. Aber erst wenn etwas schief geht, können Sie verstehen, wie kompliziert die Menschen und ihre Beziehungen sind. Deshalb fühle ich mich zu gestörten Zuständen hingezogen.
SPIEGEL ONLINE: Doch bei Ihnen geht es nicht einfach um Beziehungskrisen, diese Störungen sind extremer Natur.
Cronenberg: Weil ich mir keine Zensur auferlege. Ich analysiere die Situation des Menschen, und dabei möchte ich mir keine Kompromisse auferlegen.
SPIEGEL ONLINE: Deshalb ist Ihr Film über Schizophrenie kein oscartaugliches Melodrama wie "A Beautiful Mind", sondern ein künstlerisch stilisiertes Psychogramm.
Cronenberg: Mit den handwerklichen Standards von "A Beautiful Mind" habe ich kein Problem, aber den Film per se finde ich ekelhaft. Hollywood will uns keine komplexen Geschichten erzählen, deshalb verrät es seine Charaktere. Es benutzt sie nur als Vehikel, um billige Emotionen zu vermitteln.
SPIEGEL ONLINE: Aber die meisten Zuschauer scheinen solche Emotionen zu mögen.
Cronenberg: Das ist traurig, aber wohl wahr. Deshalb mache ich meine Filme eher für ein kleines Publikum. Und dafür muss ich mit niedrigeren Budgets auskommen, was ich akzeptiere.
SPIEGEL ONLINE: Es sei denn, Sie setzen auf Horror-Effekte. Mit Filmen wie "Die Fliege" oder "Scanners" feierten Sie Ihre größten kommerziellen Erfolge.
Cronenberg: Weil es Filme waren, die man als Science Fiction oder Horror verkaufen konnte. Das ist also eher eine reine Marketing-Frage. Ein Film wie "Spider" dagegen lässt sich nicht so einfach beschreiben, deshalb erreicht er automatisch weniger Zuschauer. Ich hätte auch nichts dagegen, wieder einen Genre-Film zu drehen. Denn unter diesem Deckmantel kannst du Geschichten erzählen, die man sonst nie akzeptieren würde. Nehmen Sie "Die Fliege": Eigentlich ist es ein tragischer Liebesfilm. Zwei attraktive Außenseiter beginnen eine Beziehung, dann bekommt er eine schreckliche Krankheit, und sie hilft ihm Selbstmord zu begehen. Die Horrormotive sind ein regelrechter Schutzschirm für diese Handlung.
SPIEGEL ONLINE: Warum drehen Sie dann nicht mehr Genre-Filme?
Cronenberg: Weil sie meine Möglichkeiten begrenzen. Diese Filme sind auf ein bestimmtes Publikum mit spezifischen Erwartungen ausgerichtet. Ich kann nicht mehr so frei erzählen wie im Falle von "Spider".
SPIEGEL ONLINE: Könnten Sie sich vorstellen, wieder im Hollywood-System zu arbeiten, wie Sie das mit "Die Fliege" oder "Videodrome" gemacht haben?
Cronenberg: Ich kann mir vorstellen, mit dem System zu flirten. Ich möchte seine Maschinerie benutzen, wie ich es mit diesen Filmen getan habe. In den letzten Jahren waren auch einige Projekte im Gespräch, darunter der neue"Exorzist"-Film oder "Basic Instinct II". Aber es ist ein gefährliches Spiel, denn es kann passieren, dass das System dich benutzt. Bei einem Film wie "Spider" musst du zwar mit jedem Cent rechnen, aber dafür gibt es kein Studio, das dir reinredet.
SPIEGEL ONLINE: Angesichts der extremen Themen, von denen Sie erzählen - wie muss man sich da Ihr Privatleben vorstellen?
Cronenberg: Wie eine typische Mittelschicht-Existenz. Ich habe ein Haus und ein Auto, und ich bringe den Müll nach draußen. Ich habe auch eine Familie - mittlerweile bin ich sogar Großvater. Es ist nicht ungewöhnlich, dass jemand wie ich in so durchschnittlichen Umständen lebt. Jemand sagte einmal: 'Ich führe ein sehr bürgerliches Leben, damit ich radikale Kunst schaffen kann.'
SPIEGEL ONLINE: Könnten Sie als Bohemien keine solche Kunst schaffen?
Cronenberg: Nehmen Sie jemanden wie William S. Burroughs, den Autor von "Naked Lunch", den ich persönlich gut kannte. Wenn man etwas über sein Leben liest, könnte man den Eindruck bekommen, bei ihm sei alles wild und verrückt gewesen. Aber er sagte mir: 'Den Großteil meines Lebens verbrachte ich auf einem Stuhl vor der Schreibmaschine.' Wenn ich selbst meine Drehbücher schreibe, geht es mir ähnlich. Da brauche ich nur ein ruhiges Zimmer für mich. Und beim Dreh kann ich mir ebenfalls keine Drogenexzesse oder sonstigen Eskapaden leisten. Das ist ein fast schon industrielles Unternehmen. Da musst du pünktlich sein und die Antworten für die anderen bereit haben. Wäre ich auf den großen Selbstzerstörungstrip gegangen, dann hätte ich nie so viele Filme gemacht.
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