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Faden verloren

Von Andreas Borcholte

Der kanadische Regisseur David Cronenberg, Spezialist für visuell verstörende Auslotungen der menschlichen Psyche, entdeckt in seinem neuen Film "Spider" die Kunst des Weglassens. Poetisch und ruhig erzählt er die Geschichte eines Mannes, der sich im Spinnennetz der eigenen Imagination verfängt.

Dennis Cleg trägt vier verknitterte Hemden übereinander. Darüber noch ein Jackett und einen schmutzigen Gehrock. Warum auch nicht? "Kleidung macht den Mann", sagt jemand zu ihm, "und je weniger Mann es gibt, desto mehr Kleidung ist nötig". In einer anderen Szene sitzt Cleg an einem Tisch und versucht mit sichtbarer Anstrengung, ein einfaches Puzzle zu legen. Es zeigt eine Möwe mit weit ausgebreiteten Flügeln vor blauem Himmel. Ein Freiheitsmotiv. Er wird daran verzweifeln.

David Cronenberg ist einer der wenigen Regisseure, denen man eine eigene Handschrift zuerkennt. In Filmen wie "Die Fliege", "Die Unzertrennlichen", "Crash" und "Naked Lunch" zeigte uns der Kanadier mit drastischen, oft grausamen und brutalen Bildern, welche Abgründe sich in der menschlichen Psyche öffnen können. Kafka und Heidegger, die Flucht in Imagination und Wahn, obsessive Sexualität und die Suche nach dem Sinn der menschlichen Existenz sind wiederkehrende Themen seiner verstörenden Filme.

Mit "Spider" blickt Cronenberg nun erstmals durch die Augen einer Figur, deren Leiden pathologisch ist: Dennis Cleg ist psychisch gestört, ein Mann, der sich im löchrigen Netz seiner eigenen Psyche verfangen hat und womöglich nie mehr einen Ausweg finden wird.

Um die Geschichte Clegs zu erzählen, nimmt sich Cronenberg als Filmemacher zurück: Die visuellen Opulenzen und Ekelszenarien früherer Filme weichen einer meditativen Stille, einem quälend langsamen Erzählrhythmus. Der Film heißt zwar "Spider", doch kommen monströse Insekten und mutierte Körper diesmal nicht vor. Grüne und graubraune Farbnuancen dominieren und illustrieren eine grenzenlose Tristesse. Die Romanvorlage von Patrick McGrath verlegte der Regisseur aus den sechziger Jahren in die Achtziger, und doch wähnt man sich in einem schäbig-schmutzigen und London, das der Nachkriegszeit noch nicht lange entronnen zu sein scheint.

Dennis Cleg wird nach über 20 Jahren aus einer Heilanstalt entlassen. Wir sehen ihn in einer schönen Hommage an die Kino-Pioniere Louis und Auguste Lumière, wie er am Bahnhof einem Zug entsteigt, verwirrt, vornüber gebeugt, Unverständliches vor sich hin murmelnd. Seine neue Bleibe ist ein so genanntes "Halfway House" in einem grauen Arbeiterviertel: Offener Vollzug für Psychiatrie-Patienten auf dem Wege der Besserung. Geführt wird es von einer resoluten alten Dame namens Ms. Wilkinson, der Cleg mit ängstlicher Bockigkeit begegnet.

In diesem kargen Asyl, nicht weit entfernt von seinem früheren Zuhause, muss sich Cleg einer Flut von Erinnerungen stellen, die nicht recht zusammen passen wollen. Warum musste Cleg in psychiatrische Behandlung? Welche traumatischen Ereignisse machten ihn zu einem gebrochenen Mann, der ängstliche und gehetzte Blicke über die Schulter wirft? Während er die Orte seiner Kindheit erneut aufsucht, vermengen sich reale und erfundene Geschehnisse in seinem Kopf zu einem Gedächtnis-Puzzle, das selbst gesunde Menschen um den Verstand bringen würde.

In subjektiven Rückblenden, in denen zum Teil der erwachsene Cleg sein 13-jähriges Alter Ego beobachtet, werden auch wir in das Spinnenetz der trügerischen Erinnerungen verwoben. Clegs Mutter, die ihren Sohn liebevoll "Spider" nennt, erzählt ihm die Geschichte von Spinnenweibchen, die ihre Eier in einen seidenen Beutel in der Mitte eines schimmernden Netzes legen und sich nach vollzogener Ablage zum Sterben zurückziehen. Dennis ist fasziniert von der Schönheit der Spinnennetze. Mit Fäden und Seilstücken verwandelt er sein Kinderzimmer in ein Labyrinth, dessen Mitte sein Bett bildet.

Auch der erwachsene Cleg fängt bald an, sein karg möbliertes Anstaltszimmer zu verweben. Entlang der Schnüre sucht er nach Spuren, Erinnerungsfetzen notiert er in einem sorgsam gehüteten Notizbuch, in das er manisch enge Zeilen unleserlicher Aufzeichnungen kritzelt. Allmählich entspinnt sich eine Geschichte. Man glaubt zu erfahren, dass Clegs raubeiniger Vater (Gabriel Byrne) einst die sanftmütige Mutter umbrachte, um sich ungestört mit einer vulgären blonden Dirne vergnügen zu können. Der Junge sinnt auf Rache und benutzt seine Spinnen-Schnüre, um den Mord an seiner geliebten Mutter zu ahnden. Doch nach der kaltblütigen Tat offenbart sich, dass man Spider und seinen Wahnvorstellungen auf den Leim gegangen ist.

Allein die Tatsache, dass Mutter wie Geliebte von ein und derselben Person dargestellt werden (grandios: Miranda Richardson), gibt einen Hinweis darauf, dass es in "Spider" vor allem um Freud und Ödipus geht.

Ralph Fiennes, brillant als KZ-Kommandant in "Schindlers Liste", enttäuschend in fast allen Rollen danach, kann sich mit seiner Darstellung Dennis Clegs als ernst zu nehmender Schauspieler rehabilitieren. Seine hellen Augen starren Unheil ahnend in die Ferne, sein sehniger Körper krümmt sich um sich selbst, kaum ein verständlicher Satz kommt über seine Lippen. Mit Konzentration und beeindruckender Körperlichkeit schafft es der britische Schauspieler, seiner opaken, in sich verirrten Figur Transparenz und Wahrhaftigkeit zu verleihen.

Um ihn herum spinnt Cronenberg das Netz der Wahrnehmungen, Erinnerungen und Imaginationen Clegs so perfide, dass auch der Zuschauer den Faden verliert. "Spider", obwohl wie ein klassischer, wenn auch in sich verdrehter "Whodunit"-Thriller aufgebaut, verwehrt sich jeglicher Logik. Aber Antworten zu geben, das war ohnehin noch nie das Anliegen des Regisseurs, der mit diesem faszinierenden Psychogramm in eine neue Phase seines Schaffens eintritt. So sehr saugt einen die kühle Atmosphäre des Films in seinen Bann, dass man fröstelnd ein paar Hemden übereinander ziehen möchte. In der schieren Weite und Unübersichtlichkeit der menschlichen Psyche, von der "Spider" eine Ahnung vermittelt, bleibt man klein und verloren zurück.



  
( 0 ) 10.06.04    Tag: Movies




 
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